Lecken, schlabbern, schnalzen Faszinierende Fakten über die Zunge – mehr als nur ein Sprachorgan
Düsseldorf · Die Zunge ist der erstaunlichste Muskel des Menschen, inneres Sinnesorgan und Extremität zugleich, provokant, unerlässlich für Nahrungsaufnahme und Kommunikation. Ein neues Buch widmet sich der Wandelbaren.
Manche verbrennen sie sich. Weil sie nicht im Zaum gehalten oder eben schlecht gehütet wurde, was auf dasselbe hinausläuft: Im Nachhinein hätte man sie sich lieber abgebissen. Andere reden mit einem gespaltenen Exemplar oder einem besonders scharfen, was unter Alkoholeinfluss freilich beständig schwerer wird – bis hin zum Knoten darin. Darauf lässt sich in solchen Fällen dann nicht mehr viel zergehen. Doch Schluss mit Wortakrobatik, denn nun liegt uns das, worum es geht, auf derselben: Wir sprechen von der Zunge.
Sie ist in aller Munde, allerdings kommt diesem feinfühligen Muskel ohne Knorpel und Knochen, diesem Wunderwerk an verbaler und nonverbaler Kommunikation, diesem ebenso seltsamen wie sensiblen Empfänger und Spender von allerlei Genüssen, diesem für das physische wie soziale Überleben unentbehrlichen Organ bei Weitem nicht die Aufmerksamkeit zu, die anderen Körperteilen gerne zuteilwird. Dabei gibt es im Gegensatz zu zwei Augen, zwei Ohren und einer ganzen Reihe weiterer Doppel-Organe nur eine Zunge. Auch aus diesem Grund hat der Literaturwissenschaftler Florian Werner ihr nun eine Betrachtung gewidmet, in der er gleichermaßen anatomische wie kulturelle Zusammenhänge herausstellt.
Sie kann lecken, schlabbern, saugen, schmatzen, schnalzen oder klicken. Alle höher entwickelten Lebewesen besitzen eine Zunge. Bei Ameisenbären ist sie bis zu 60 Zentimeter lang und überaus klebrig, die eines Blauwals wiegt rund vier Tonnen, Chamäleons schleudern sie heraus, um damit Insekten zu erhaschen, indem sie bei Bedarf Blut in den Muskel pressen, Schlangen nehmen Geruchsmoleküle mit ihrer Zunge auf.
Schon die alten Römer kannten die sogenannte tortura cum capra , besser bekannt als „Ziegenfolter“, bei der das Tier mit seiner rauen Zunge die Fußsohlen des bedauernswerten Opfers bis auf die Knochen wegleckt. Rinder rupfen mit gewaltiger Zungenkraft ganze Grasbüschel aus dem Boden, Raubkatzen raspeln mit ihren verhornten Papillen das rohe Fleisch ihrer Beute vom Skelett. Aber keine dieser Kreaturen vermag damit Worte zu artikulieren, was der Sketch „Der sprechende Hund“ von Loriot eindrucksvoll belegt.
Menschen hingegen verdanken der Zunge nicht nur die Geschmackswahrnehmungen süß, sauer, salzig, bitter und die noch nicht so lange entdeckte Variante umami, was etwa herzhaft bedeutet, sondern auch die Extremvokale „i“ (weit oben und vorn in der Mundhöhle gebildet) das „a“ (Mund weit offen, Zunge so weit wie möglich zurückgezogen) und das „u“ (ebenfalls zurückgezogener Zunge bei fast geschlossenem Mund). Nicht zu vergessen die Vielzahl von Konsonanten, nicht alphabetisch, sondern vorne bei den Schneidezähnen angefangen mit dem „s“ und sehr weit hinten im Rachen endend mit dem „r“. Einige im Süden und Südwesten Afrikas lebende Völker verwenden überdies Klicklaute, um sich sprachlich zu verständigen.
Die Zunge ist dabei im besten Fall Sprachrohr der reinen Vernunft, der Blitzableiter eines scharfen Verstandes. „Eine spitze Zunge ist der einzige Gegenstand, der durch ständigen Gebrauch noch spitzer wird“, befand der amerikanische Schriftsteller Washington Irving (1783–1859). Zugleich erscheint sie als Vorposten des Verdauungsapparates durch ihre Speicheldrüsen wenig appetitlich: schleimig, schlüpfrig, mit einer Oberfläche, die sich „zwischen Krötenhaut und nass gewordenem Schmirgelpapier“ bewegt. So was hinterlässt ein gewisses „Gschmäckle“. Weil die Zunge zudem der einzige Teil des Körpers ist, der ihn blitzschnell verlassen und wieder in ihn zurückkehren kann, haftet ihr etwas ebenso Vulgäres wie Laszives an.
Eine heraushängende Zunge kann als Kontrollverlust gedeutet werden, hervorgerufen durch Trunkenheit, Schmerz oder den Vorgang des Sterbens. Deshalb findet sich auf den alten, kunstvoll gemalten Porträts geistlicher oder weltlicher Herrscher keines, auf denen auch nur eine Zungenspitze hervorlugt. Und selbst die Darstellungen des geschundenen Gekreuzigten, die mit grausigen Details ja keineswegs sparen, verzichten darauf, die Zunge des dürstenden und zuletzt zu seinem Gott schreienden Jesus zu zeigen. Beim Empfang der Kommunion wiederum spielt sie eine zentrale Rolle, wurde die Hostie doch bis weit in die Gegenwart im Gottesdienst vom Priester direkt auf die Zungenspitze der Gläubigen platziert, die älteren Katholikinnen und Katholiken werden sich erinnern.
Ansonsten stellt die absichtlich herausgestreckte Zunge eine provokante Grenzüberschreitung dar, die Auflehnung gegen Konventionen ausdrückt oder als Beleidigung gemeint ist. Die Rolling Stones haben sie zu ihrem Markenlogo erkoren, die Hardrocker von Kiss entrollten die ihren allzu gern auf der Bühne. Berühmt wurde nicht zuletzt der Schnappschuss vom Zunge zeigenden Physik-Genie Albert Einstein. Und vielleicht hat dem CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet im Bundestagswahlkampf 2021 mehr als sein breites Lachen zum falschen Zeitpunkt die Tatsache geschadet, dass dabei auf der Gedenkveranstaltung für die Flutopfer auch seine Zunge zu sehen war.
Etwas rätselhaft bleibt indes die Magie des Zungenkusses, zumal durchaus erogenere Zonen als ausgerechnet in der Mundhöhle existieren. Zumindest für Außenstehende hat das nassforsche Vorgehen etwas Animalisches, obwohl Zungenküsse im Tierreich tatsächlich sonst lediglich bei Zwergschimpansen zu beobachten sind und somit eher eine kulturelle Errungenschaft des Menschen darstellen. Ob der Ursprung in der Weitergabe vorgekauter Nahrung von Müttern an ihre Säuglinge liegt, ist einstweilen bloß eine Vermutung.
Auf jeden Fall ist der Anteil an non-verbaler Kommunikation dabei beträchtlich, markiert der Zungenkuss doch das Ende der Trockenübungen bei der Annäherung verliebter Paare und signalisiert im Zweifel die Bereitschaft zu weitergehenden Intimitäten. „Im Zungenkuss treffen die Münder auf das Andere ihrer selbst, unabhängig vom Geschlecht; während die Genitalität die Andersartigkeit des Anderen hervortreibt, die bestenfalls komplementär, aber niemals symmetrisch ist“, sucht der Kultur- und Literaturwissenschaftler Hartmut Böhme das Phänomen zu ergründen.
Freilich findet sich die Zunge selbst im Arsenal der Beschimpfungen wieder, auch wenn eine ihrer zentralen Eigenschaften beim bekannten „Du kannst mich mal“ nicht einmal namentlich erwähnt werden muss. Es zeugt in der Tat von erheblicher Geschmacklosigkeit und dem Wunsch nach Erniedrigung des Adressaten, sein sensibles Organ vom Anfang der Nahrungsverwertung an deren Ende versetzen zu wollen. Auch „Speichellecker“ zählt zu den wenig schmeichelhaften Titulierungen.
Florian Werner erinnert zudem an eine der grausamsten Formen der Bestrafung: das Abschneiden oder Herausreißen der Zunge, mit dem Kritiker oder ungehorsame Sklaven mundtot gemacht werden sollten – bis heute schreckliche Praxis in Teilen des organisierten Verbrechens.
Zu den amüsanten Zungen-Geschichten gehört die von Boris Becker und Andre Agassi: Der Tennisstar aus Leimen hatte die Angewohnheit, kurz vor seinem gefürchteten Aufschlag die Zunge leicht herauszustrecken. Zeigte sie auf der Einstandsseite nach links, schlug er den Ball nach außen, streckte er sie gerade heraus, schlug Becker durch die Mitte auf, so berichtet es sein Kontrahent aus Las Vegas. Agassi fiel das verräterische Verhalten erst auf, nachdem er die ersten drei Duelle mit Becker verloren hatte. Anschließend gewann er zehn der letzten elf Spiele gegen den Deutschen.
Erst viel später verriet der US-Amerikaner in einem Interview mit „Unscriptd“, wie er Beckers Taktik entschlüsselt hatte. „Ich dachte schon, er kann Gedanken lesen“, entrüstete sich daraufhin der Unterlegene. „Nein Boris, es war deine Zunge“, triumphierte noch einmal Andre Agassi.
Florian Werner: „Die Zunge. Ein Porträt“, Hanser Berlin, 224 Seiten, 24 Euro
Author: Barbara Harris
Last Updated: 1703010241
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